Gedenkstätte Unterlüß

Donnerstag, 27. Januar 2022

Fünf Berichte aus dem Tannenberglager



Als sie 1944 in dem kleinen Barackenlager bei Altensothrieth ankamen, hatten sie bereits einen weiten Weg hinter sich. Meistens waren sie über Wochen und Monate mit Verwandten, Freunden und Unbekannten in Ghettos eingepfercht, um schließlich in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau transportiert zu werden. Dort angekommen wurden Familienverbände zerrissen und arbeitsfähige Menschen „ausselektiert“.

Als die ersten 400 bis 800 jüdische Frauen – nähere Angaben liegen hierzu bis heute nicht vor – in Unterlüß angelangten, waren ihre Verwandten und Freunde in vielen Fällen bereits ermordet worden. In Ungewissheit ihres eigenen Schicksals verrichteten die Frauen bis zum Ende des Krieges schwerste Arbeit. Untergebracht waren sie während dieser Zeit im sogenannten „Tannenberglager“ bei Altensothrieth/Unterlüß.

Nach Kriegsende kehrten einige der, zuvor aus dem KZ Bergen-Belsen befreiten, Frauen in ihre Heimat nach Ungarn zurück. In Aussagen, die einige von ihnen gegenüber dem National Committee for Attending Deportees (DEGOB) abgaben, berichteten sie auch über ihre Zeit in Unterlüß. 

Fünf dieser Aussagen werden auszugsweise vorgestellt.


Etel Halpert, geb. 1925, Haushälterin

„(...) Ich arbeitete in Birkenau noch nichts. Unser Transport von dort ging nach Tannenberg,  wo eine Munitionsfabrik war. Ich musste dort im Außenkommando arbeiten, in zwölfstündiger Schichte, tags oder nachts. Die tausend Lagerinsassinnen setzten sich aus Ungarinnen und Polinnen zusammen. Für Organisieren von etwas Essbarem gab es Kostentzug und Einsperren in einen kalten leerstehenden Block (Anm.: leere Baracke). Im April gingen wir auf Transport und gelangten in zweistündiger Autofahrt nach Bergen-Belsen. Zwei Tage drauf wurden wir befreit. Danach erkrankte ich an Typhus, an dem ich sechs Wochen lang daniederlag. Mit einem Transport kam ich nachhause und fand hier niemanden aus der Familie vor. Ich möchte auswandern.“


Bild: Luftaufnahme Lager Tannenberg. Quelle: US Luftbild 1945.  


Rózsi Wolf, geb. 1925, Verkäuferin

„...Ungarische Gendamerie brachte uns ins Ghetto von Huszt (Anm.: heute Chust, Ukraine). Es ging uns dort noch nicht schlecht, aber vor dem Waggonieren (Anm.: Abtransport) nahm man uns verschiedene Sachen weg.
 
Nach sehr schwerer Fahrt waggonierten wir in Auschwitz aus. Unsere Familie wurde in verschiedene Truppen eingeteilt, meine Schwester und ich blieben zusammen. Wir wurden desinfiziert und man schnitt uns das Haar ab. Bei dieser Gelegenheit wurde uns noch unser letztes Besitztum, die Kleider, die wir am Leibe hatten, weggenommen. Man ersetzte sie mit fremden Sachen, möglichst in schlechtem Zustand. Wir kamen in unseren Block. Die ganze Zeit wurden wir in Auschwitz zu keiner Arbeit herangezogen. Jede Woche wurde selektiert. Im September wurden wir verschickt.

Wir gingen nach Unterlüß, in ein großes Frauenlager. Wir wohnten in Holzbaracken, unsere Tagesration waren 40 dkg (Anm.: 400 g) Brot und ¾ l Suppe. Man teilte uns zu verschiedenen, aber immer schweren Arbeiten ein. So bauten wir Straßen, schnitten Holz. Geschlagen wurden wir immer, entweder mit oder auch ohne Angabe eines Grundes.

Im Dezember kamen wir nach Bergen-Belsen. Hier hungerten wir weiter, sowie in Unterlüß. (...) Am 14. April verschwand die deutsche SS (und) übergab das Kommando ungarischen Soldaten, die sich äußerst gemein benahmen und die englischen Truppen rückten ein.“

Link: vollständige Aussage von Rózsi Wolf, Yad Vashem 


Bild: Relikte des Tannenberglagers bei Altensothrieth. Quelle: Altmann, 2015.  


Frieda Eisenstätter, geb. 1898, Haushälterin

„(...) Vier Monate waren vergangen, man selektierte um uns in ein Arbeitslager zu senden. So kam ich nach Unterlüß wo ich in den Rheinmetallwerken arbeitete. Unsere Arbeitszeit war auf zwei Schichten zu zwölf Stunden eingeteilt. Die Zivilarbeiter in der Fabrik waren ganz ordentlich, natürlich gab es auch unter ihnen verbissene Nazis. Die Aufseherinnen verbitterten uns unser sowieso schon schweres Leben wie wenn das ihr höchstes Ziel gewesen wäre wehrlose Jüdinnen zu schlagen. Eineinhalb Tage bevor die englischen Truppen die Ortschaft besetzten setzte man uns in Marsch (...)“.


Bild: Firmen, die Jüdinnen aus dem Tannenberglager beschäftigt haben. Quelle: Gemeindearchiv Unterlüß, Ordner 23/2.  


Rosa Braun, geb. 1912, Haushälterin

„(...) Vor dem Waggonieren waren wir zwei Tage lang gänzlich ohne Schuhe, sodass wir glaubten, wir gingen ins Krematorium. Nach einer drei Tage und drei Nächte währenden Fahrt gelangten wir nach Unterlüß. Eine angenehme Überraschung wurde uns zuteil, als wir jede einen eigenen Teller, einen Löffel, Tasse und ein eigenes Bett bekamen. Wir 1.000 Ankömmlinge waren die ersten Insassen des Lagers. Es gab Arbeit in der Waffenfabrik, Sandschaufeln, Bunker bauen, Wegebau, Anlage von Wasserbecken. Wir mussten schmirgeln, arbeiteten mit Schwefel; das Haar verfärbte sich einem rot, die Haut gelb, eine jede wurde lungen- oder magenkrank, eventuell beides. Fieber trat auf. Viele wurden gelb wie ein Tier solcher Farbe. Es gab so viel zu tun, dass auch die Blockowas (Anm.: Blockälteste) bei der Arbeit mittun mussten. Die Arbeitsunfähigen wurden nach Bergen-Belsen geschickt. Bei der Arbeit hetzte die Lagerführerin Hunde auf uns. Viele gingen in selbstmörderischer Absicht an den Zaun und töteten sich (Anm.: hierzu fehlen weitere Nachweise). Der Lagerführer wurde abgelöst, es kam ein Hans Stecker, seine weibliche Kollegin war eine Susanne Hille. Die kamen ohne Grund auf den Block, den Gummiknüppel in der Hand und schrien: „Komisches Volk, faule Tiere! Ihr Mist-Volk, du blöde Kuh!“ und schlugen drauf los. (...) Dabei stieß und trat der Lagerführer auf Frauen, fiel eine hin, rollte er sie auf dem Boden, bis sie nicht mehr aufstehen konnte.

Es gab Tage, wo nur eine gewisse Anzahl zur Arbeit gehen musste und die betreffenden ausgewählt wurden. Da gab es viel Streit um das Recht zurückbleiben zu können. Wurden wir beim Organisieren von Kleidern erwischt, zu denen uns polnische und französische Kriegsgefangene verhalfen, so gab es von Seiten des Lagerführers und der Lagerführerin 25 Stockhiebe. Bei der Arbeit wurden wir schwarz vor Kälte, da wir keine Winterbekleidung hatten. Hatten wir keine Arbeit, mussten wir auch im Freien stehen. Beim Bäumefällen, Bunkerbauen und anderen Freiluftarbeiten durften wir kein Feuer machen. Wäsche wuschen wir uns selber und trockneten sie verbotenerweise (...)

(...) Wir wurden sehr schwach und hatten in der letzten Zeit sehr viele Kranke unter uns. Dauernd fand ein Menschenaustausch zur Ergänzung der ausfallenden Arbeitskräfte statt. Man brauchte Nachschub und so wurden Läuse ins Lager eingeschleppt, desgleichen Flöhe. Des Nachts quälten uns die Biester; auch Ratten gab es. Man streute Gift dagegen.

Der Hunger griff immer mehr um sich und damit die Ausschau nach Nahrungsquellen. Man konnte sehen, wie Frauen aus den Kloaken Rübenschalen herausklaubten!!! Auf Rübendiebstahl wurde schließlich Todesstrafe verhängt; es wurde dafür erschossen (Anm.: Erschießungen sind nicht zweifelsfrei belegt). Die Deutschen sagten, eine jede kartoffel zählte ihnen. Es wurde aber weiter geklaut.

Bei Luftalarm wurden die Blöcke abgeschlossen und die Deutschen liefen in die Bunker. Die sadistische Lagerführerin richtete viele zugrunde, es wurde vor der „Braunen“ furchtbar gezittert (Anm.: Spitzname von Susanne Hille). Einmal wurde eine junge Frau ausselektiert, weil sie „nur die Musik liebte“ – sie war der Lagerführerin, die einen scharfen Verstand hatte und uns bei der Arbeit zu beobachten pflegte, aufgefallen. Die nicht arbeiteten, schickte sie einfach „weg“. (...).“


Bild: Relikte des Tannenberglagers bei Altensothrieth. Quelle: Altmann, 2015.  


Eszter Kaufmann, geb. 1927, Strickerin.

„(...) In Unterlüß hatte ich schwer zu arbeiten, doch wäre weder die schwere Arbeit noch die spärliche Kost das Schlimmste gewesen, da ich besonders das Hungern bereits von Auschwitz her bereits gewöhnt war. Das Schlimmste war die rohe Behandlung, die uns seitens des Lagerkommandanten, eines SS-Scharführers, zuteil wurde. Dieser Kerl hatte nur die Hauptsorge, uns auch nicht einen Augenblick zur Ruhe kommen zu lassen. Hatten wir nichts mehr zu arbeiten, so durften wir nach der schweren Arbeit nicht ausruhen, sondern mussten stundenlang Zählappellstehen. War die uns zugeteilte Arbeit nur leichter Natur, so durften wir auch daran keine Freude haben, denn dann ließ uns der Herr Scharführer hin- und herlaufen (...). Wer nicht mehr laufen konnte, wurde schwer verprügelt. (...).

Nach der Evakuierung von Unterlüß brachte man uns nach Bergen-Belsen, wo wir noch eine Woche warten brauchten, bis wir am 15. April von den Engländern befreit wurden.“


Die historischen Zusammenhänge des Tannenberglagers sowie der weiteren Lager in Unterlüß und Umgebung sind weiterhin Gegenstand der Forschung.

H. Altmann 


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